Die Bergpredigt zählt zu den bekanntesten und unbestritten prominentesten Texten des Neuen Testamentes und fast jeder Christ kennt das Gleichnis vom Haus auf dem Felsen, das Gebot der
Feindesliebe, die Aufforderung, Salz und Licht der Welt zu sein und natürlich die Seligpreisungen.
Aber so eingängig die Formulierungen sind, so schwierig ist es oft, ihrer Bedeutung auf die Schliche zu kommen. In diesem Text soll es um einen ersten Zugang zu den Seligpreisungen gehen, die
gleich zu Beginn eine ganze Reihe von Fragen aufwerfen:
Was bedeutet eigentlich „selig“? Sind die so bezeichneten Personengruppen gerettet? Im Falle derjenigen, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden, kann man davon wohl ausgehen, aber bei
denen, die unter Unrecht leiden oder unter ihrer Armut? Und wieso taucht dort nirgendwo der Glaube auf, von dem wir doch eigentlich erwarten würden, dass er die alles entscheidende Größe im Leben
eines Menschen ist?
Ich werde in diesem Text versuchen zu zeigen, dass der Schlüssel für einen angemessenen Zugang zu den Seligpreisungen im Verständnis des Begriffs „selig“ liegt.
Wie hätte diese Lehrrede eigentlich alternativ beginnen können? Naheliegend wäre doch im Hinblick auf die rasant anwachsende Anhängerschaft eine Beschreibung der schlimmen Zustände, ein
demagogischer Appell oder wenigstens eine Anrede an die Hörer gewesen. Im Stil der alttestamentlichen Prophetie hätte er auch die Besatzung mit der Sünde des Volkes erklären und sie zur Besserung
auffordern können. Jesus könnte auf ihr Leid eingehen, dass er beenden wird, die Ungerechtigkeit, die sie erleben, um zu zeigen, dass er einer von ihnen ist, scharfe Worte gegen die Römer richten
und eine rosige Zukunft ausmalen.
Der ausgesprochen freundliche Beginn seiner Rede klingt aber - zumindest in den deutschen Übersetzungen - viel mehr nach dem Wunsch, den Menschen zu allererst eine gute Nachricht (eben ein
„Evangelium“) zu bringen.
Mt 5,
3 Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel.
4 Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.
5 Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben.
6 Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden.
7 Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren.
8 Glückselig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.
9 Glückselig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen.
10 Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der Himmel.
11 Glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Böse lügnerisch gegen euch reden werden um meinetwillen. 12 Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß in den
Himmeln; denn ebenso haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch waren.
In Lukas stehen den Seligpreisungen die Wehe-Rufe gegenüber:
Lk 6, 24 „Aber wehe euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost dahin. 25 Wehe euch, die ihr voll seid, denn ihr werdet hungern. Wehe euch, die ihr jetzt lacht, denn ihr werdet trauern und
weinen. 26 Wehe, wenn alle Menschen gut von euch reden, denn ebenso taten ihre Väter den falschen Propheten.“
Diese Wehe-Rufe fehlen zwar bei Matthäus, sind aber für das Verständnis der Seligpreisungen wichtig, um eine oberflächliche Lesart zu vermeiden.
Offenbar hängt das richtige Verständnis der Seligpreisungen von dem Wort ab, das in unseren Übersetzungen mit glücklich, glückselig, selig oder göttlich glücklich wiedergegeben wird, nämlich dem
griechischen Ausdruck makarios.
Makarios
Das Wort makarios, das bei uns mit „selig“ oder „glückselig“ o.ä. übersetzt wird, ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, das Neue Testament immer zweisprachig zu denken: denn es gibt
neben dem hebräischen oder eher aramäischen Original noch die griechische Übersetzung.
Die Übersetzung ist aber nicht einfach ein Ersetzen von Wörtern sondern ein mutiger Versuch, hebräisches Denken und Ausdrücken in eine völlig fremde und dafür über weite Strecken auch ungeeignete
heidnische Sprache zu überführen, ein Versuch, der so schwierig erscheint, dass die Autoren der neutestamentlichen Briefe oft geradezu gegen die fremde Sprache anzuschreiben scheinen. So muss
Jakobus gegen den griechischen Begriff von Glauben (pistis) polemisieren, um deutlich zu machen, dass Paulus einen hebräischen Begriff (emuna) zugrunde legt.
Jak 2, 19 „Du glaubst, dass nur einer Gott ist? Du tust recht daran; die Teufel glauben’s auch und zittern.“
Der griechische Begriff pistis ähnelt stärker unserem Deutschen Für-wahr-halten als dem hebräischen Vertrauen. Paulus tut zwar alles, um den griechischen Begriff durch seine Ausführungen neu zu
füllen, aber Jakobus und Petrus hatten wohl nicht zu unrecht den Verdacht, dass manche heidnischen Leser sich trotzdem von dem ihnen nur scheinbar vertrauten Begriff täuschen lassen - und wie man
befürchten kann: mit ihnen der gesamte Protestantismus.
Ähnliche Schwierigkeiten gibt es bei dem Begriff „Gesetz“ („nomos“ im Griechischen), der in den westlichen Übersetzungen unpersönlich und mechanisch klingt, während das Hebräische von den
Weisungen Gottes ausgeht, denen der Mensch sein Leben verdankt.
Im Neuen Testament begegnen uns daher oft Hilfsbegriffe wie „Gesetz der Sünde und des Todes“ auf der einen Seite, sowie „Gesetz der Freiheit, des Geistes und des Lebens“ auf der anderen, um immer
wieder die unterschiedlichen Aspekte des Gesetzesbegriffes auszudrücken.
Röm 8, 2 „denn das Gesetz des Lebensgeistes in Christus Jesus hat uns von dem Gesetz der Sünde und des Todes freigemacht.“
Ähnlich verhält es sich auch mit dem Begriff makarios, der zwar schon seit der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des AT, das ca. 250 Jahre vor Christus geschrieben wurde, als Übersetzung
für asre verwendet wird aber trotzdem nur eine näherungsweise Wiedergabe des ursprünglichen Begriffes erlaubt. Immerhin wissen wir dadurch, welches hebräische Original wir dort gedanklich
einsetzen müssen, wenn makarios im NT verwendet wird.
Gemeinsam ist beiden Begriffen, also sowohl dem griechischen makarios wie dem geistig zugrundliegenden hebräische Wort asre, dass sie „Glück“ grundsätzlicher verstehen, als wir das im Deutschen
gewohnt sind. Wenn wir „Glück“ gehabt haben, dann sind wir von einem Unglück verschont geblieben oder haben etwas gewonnen. Wir können auch von einem Dieb, der nicht erwischt wurde, sagen, dass
er „Glück“ hatte.
Wenn man sich zunächst mit der Bedeutung des Wortes makarios beschäftigt, ergibt sich ein komplexes Bild, das offensichtlich die Auslegungsprobleme der Seligpreisungen reflektiert: Auf der einen
Seite stehen die Deutungen, die den Begriff geistlich stark aufladen wie z.B. im Lexikalischen Sprachschlüssel der Elberfelder Studienbibel:
Lexikalischer Sprachschlüssel aus der Elberfelder Studienbibel (Wort 3081 - R. Brockhaus Verlag)
makarios - glückselig, die makariotes, Glückseligkeit, völlige Zufriedenheit besitzend. Im NT entspricht es dem atl. aschre, welches den von Gott Gesegneten und endgültig in seine Gemeinschaft
Aufgenommenen bezeichnet (Ps 1,1; 84,5f.13 u.ö.; vgl Röm 4,7f). Daher zeigt es den Zustand des Glaubenden in Christus an (Mt 5,3-11; Lk 6,20-22; Joh 13,17; Offb 14.13 u.ö.). Durch die Erlösung in
Christus sind sie vom Heiligen Geist erfüllt und tragen den neuen, göttlichen Menschen in sich, weshalb sie völlig zufriedengestellt sind und v.a. in der Ewigkeit einmal bei Gott sein werden
(Offb 19,9; 20,6; 22,7.14).
Andererseits wird der Begriff so stark soteriologisch aufgeladen im NT nicht immer verwendet. Z.B. kann Paulus vor Agrippa sagen, dass er sich makarios schätzt, sich vor ihm verantworten zu
dürfen. (Apg 26, 2)
Und auch die übliche Verwendung im säkularen Bereich spricht nicht für eine Bezeichnung von Erlösten, vielmehr kann man im Laufe der Zeit eine schrittweise Verflachung des Begriffs im Verlauf der
Jahrhunderte beobachten.
Ursprünglich war der Begriff für den griechischen Göttern vorbehalten. Menschen kannten zwar eine irdische Form von Glück, aber davon grundverschieden war eben diese entrückte Form des Glücks,
die kein Schmerz und kein Leid kennt, das den Menschen nicht zugänglich schien.
Später wurden auch die Toten als makarios bezeichnet, zumindest sofern sie zu den Menschen gehörten, die mit einem glücklichen Schicksal nach dem Leben rechnen durften, denn auch sie waren den
irdischen Sorgen vollkommen entrückt.
Und zuletzt wurde der Begriff auf die Gruppe der Reichen angewendet, denen ihr Wohlstand schon hier in ihrem irdischen Leben eine Form von Sorglosigkeit ermöglichte, die der normalen Bevölkerung
wie nicht von dieser Welt erscheinen musste. In jedem Fall war der Begriff auch zur Zeit der Abfassung des NT schon etwas altertümlich.
Der Begriff könnte in seiner Bedeutung unserem Wort „selig“ tatsächlich recht nahekommen, weil er etwas altertümlich und nach mehr klingt als das alltägliche Wort „glücklich“. Wir können
ebenfalls von den Reichen sagen, dass sie sich in einem Luxusresort auf ihrer Insel der Seligen treffen, wenn wir ausdrücken wollen, dass sie den normalen Alltagssorgen entrückt sind, wobei wir
die religiöse Seitenbedeutung als Bild verwenden ohne an eine reale Insel der Seligen zu glauben.
Wir sehen also, dass der griechische Ausdruck makarios keineswegs einfach mit glücklich in unserem Verständnis zu übersetzen ist. Er zeigt an, dass es um mehr geht.
Wir haben es im Fall der Bergpredigt mit einer inner-jüdischen Rede zu tun, so dass aber vor allem der hebräische Begriff wichtig ist. In diesem Fall ist es wie gesagt relativ einfach, diesen
Begriff zu finden, weil makarios in der Septuaginta regelmäßig die Übersetzung des Wortes asre war.
Asre
Im Alten Testament ist der Begriff asre zwar nicht auf den religiösen Bereich beschränkt, so kann der Psalmbeter in Psalm 1 zwar den Mann „glücklich“ schätzen, der nicht im Rat der Gottlosen
wandelt sondern seinen Freude am Gesetz des Herrn hat, aber das Wort kann auch von der Königin von Saba verwendet werden, wenn sie die Knechte glücklich preist, die einem so weisen Herrn wie dem
König Salomon dienen dürfen (1. Könige 10,8).
Im direkten Vergleich mit den Seligpreisungen und Weherufen ist es auch interessant zu sehen, dass das Begriffspaar auch im Buch Prediger so auftaucht.
Prediger 10, 16 „Wehe dir, Land, dessen König ein Junge ist und dessen Oberste ⟨schon⟩ am Morgen speisen! 17 Glücklich du Land, dessen König ein Edler ist und dessen Oberste zur ⟨rechten⟩
Zeit speisen, als Männer und nicht als Zecher!“
Bevor wir uns mit der Bedeutung von asre beschäftigen, ist es aber vorab wichtig, sich von dem Gedanken einer Vokabelsuche zu lösen.
Wörter haben nicht nur eine bestimmte Bedeutung sondern auch ein Bedeutungsspektrum und eine eigene Dynamik.
Was das Bedeutungsspektrum eines Wortes ist, können wir uns das an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Wie würden wir einem Menschen, der aus einer Kultur kommt, in der nur die Arbeit zählt,
den Begriff „Feierabend“ erklären? Er kennt sicher Begriffe in seiner Sprache, die ausdrücken, dass man mit seiner Arbeit aufhört, aber er kennt diesen Zustand nur als etwas, wofür man sich
eigentlich schämt. Er kennt auch Sport und Ruhe, aber die dienen nur der Regenration, die wiederum wichtig ist für die Arbeit. Wir könnten also unseren Begriff nicht einfach ersetzen sondern
müssten recht ausführlich erklären, welchen Stellenwert sowohl Arbeit als auch Beziehungen und Spaß in unserer Kultur haben, damit er weiß, was wir uns unter dem Begriff „Feierabend“ vorstellen.
Dieses Beispiel zeigt, dass Begriff sehr komplex in die Kultur eingebettet sein können und darin ein für Muttersprachler oft kaum zu überblickendes Bedeutungsnetz mitbringen. Das meine ich mit
dem „Bedeutungsspektrum“.
Die Bedeutungsdynamik ist aber etwas anderes. So ist es im Englischen recht eindeutig und fix geregelt, welche Zeitform wann verwendet wird, während man im Deutschen sehr viel flexibler damit
umgehen kann. Dieses Beispiel mag trivial sein, aber es gibt Fälle, in denen die sprachliche Dynamik Ausdruck einer Kosmologie sein kann, und genau darum scheint es bei dem Begriff asre zu
gehen.
Eine Eigentümlichkeit des Hebräischen besteht darin, dass Sprache die Welt transparent und oft auch transzendent macht, weil sie konsequent als Schöpfung Gottes gesehen wird.
Wie das aussieht, lässt sich gut an einem Beispiel veranschaulichen, dass Jesus selbst in der Bergpredigt verwendet:
Mt 5, 23 „Wenn du nun deine Gabe darbringst zu dem Altar und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24 so lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh vorher hin, versöhne
dich mit deinem Bruder, und dann komm und bring deine Gabe dar! 25 Komm deinem Gegner schnell entgegen, während du mit ihm auf dem Weg bist! Damit nicht etwa der Gegner dich dem Richter
überliefert und der Richter dem Diener und du ins Gefängnis geworfen wirst. 26 Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch die letzte Münze bezahlt
hast.“
Die Ausgangssituation ist die Opfergabe im Tempel, vermutlich am Jom Kippur, an dem man seine Händel mit anderen beilegen sollte.
Daraus entwickelt sich ein Gang zum Richter und schließlich landet der Angesprochene im Gefängnis, bis er seine Schulden beglichen hat, was Jesus einleitet mit „wahrlich“, was eine erstaunliche
Aussage ist für einen völlig fiktiven Fall.
Es ist wohl ziemlich deutlich, dass Jesus hier Gott als den Richter im Blick hat.
Interessant für uns ist hier das Nebeneinander von einer alltäglichen und einer himmlischen Szene, die beide kaum voneinander zu trennen sind. In dem Vorgang der Versöhnung sieht Jesus schon das
himmlische Urteil über die Kontrahenten.
Ganz ähnlich geht er vor, wenn er einer Frau am Brunnen Wasser anbietet, von dem sie nie wieder durstig wird.
Joh 4, 13 „Jesus antwortete und sprach zu ihr: Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten; 14 wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht
dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle Wassers werden, das ins ewige Leben quillt.“
Auch hier wird ein Bild sprachlich mehrdeutig ausgespannt: Jesus beginnt mit der konkreten Arbeit des Wasserschöpfens und bietet daneben ein anderes Wasser an, das ganz offensichtlich aber eine
geistliche Gabe ist. Dieses Erweitern von Bedeutung ist ein wesentliches Kennzeichen seiner Reden, und setzt voraus, dass alle Wirklichkeit nicht nur geschaffen ist sondern auch bedeutsam. Wir
dürfen also nicht nur wissen, dass Gott grundsätzlich auch die Lilien geschaffen hat, weil er ja alles geschaffen hat, sondern dass dies auch diese konkrete Lilie hier auf dem Feld betrifft, wo
sie ja nicht mehr lange stehen bleiben wird, weil sie hier als Ackerunkraut gilt.
Aus dieser Beobachtung kann Jesus direkt auf die Versorgung und den Reichtum Gottes gegenüber seinen Kindern überleiten. Ähnlich geht er später vor, wenn er den Sonnenaufgang für die allgemeine
Gnade gegenüber allen Menschen hinweist und daraus unsere Pflicht zur Feindesliebe ableitet.
Jesus befindet sich damit in guter altestamentlicher Tradition. Wir sehen uns als Beispiel den Psalm 1 an, weil er uns direkt die Bedeutungsdynamik des Begriffs aser enthüllt.
Ps 1, 1 „Glücklich der Mann, der nicht folgt dem Rat der Gottlosen, den Weg der Sünder nicht betritt und nicht im Kreis der Spötter sitzt, 2 sondern seine Lust hat am Gesetz des HERRN und
über sein Gesetz sinnt Tag und Nacht! 3 Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und dessen Laub nicht verwelkt; alles, was er tut, gelingt. 4 Nicht
so die Gottlosen; sondern ⟨sie sind⟩ wie Spreu, die der Wind verweht. 5 Darum bestehen Gottlose nicht im Gericht, noch Sünder in der Gemeinde der Gerechten. 6 Denn der HERR kennt den Weg der
Gerechten; aber der Gottlosen Weg vergeht."
Der Psalm kann übrigens ganz ähnlich gelesen werden wie die Seligpreisungen:
Glücklich der Mann, der nicht folgt dem Rat der Gottlosen.
Glücklich der Mann, der nicht betritt den Weg der Sünder.
Glücklich der Mann, der nicht im Kreis der Spötter sitzt.
Glücklich der Mann, der seine Lust hat am Gesetz des Herrn und über sein Gesetz sinnt/murmelt Tag und Nacht.
Aber
Wehe den Gottlosen, denn sie sind wie Spreu, die der Wind verweht…
Im ersten Vers vermutet man noch, dass es um einen Rat handelt, der den Menschen vor Problemen mit der Polizei bewahren möchte. Aber dann erweitert sich der Rat zur Warnung vor Spöttern, was ja
in der Regel noch nicht strafbar ist. Worum geht es dann?
Die Alternative ist auch nicht das bürgerlich unbescholtene Leben, sondern ein Leben, das erfüllt ist von der Freude über Gottes Weisungen, und die Zusagen übersteigen jetzt alles, was wir
zunächst vielleicht erwartet hätten. Jetzt wird dem Mensch das volle Aufblühen seines Lebens in der Kraft seiner Gaben verheißen und wir haben den Eindruck, dass der sehr unmittelbar
einleuchtende Rat am Anfang eine eindrucksvolle Bedeutungserweiterung erfährt.
Ab Vers 4 geht es dann aber um das Gericht Gottes und wir erleben eine weitere und letzte Bedeutungserweiterung, die das Schicksal des Gottesfürchtigen und des Gottlosen bis ins Jenseits
verfolgt.
Wenn wir uns jetzt fragen, was Glück vor diesem Hintergrund bedeutet, bzw. ob wir es eher als Weisheit oder Alltagsklugheit verstehen sollen oder ob seine Verheißung sich eigentlich im Jenseits
auszahlt, dann haben wir die Dynamik des Psalms nicht verstanden und bleiben in einem schillernden Verständnis zwischen Diesseits und Jenseits hängen.
In einer ähnlichen Bedeutungsdynamik verwendet die Königin das Wort asre, als sie über die Weisheit Salomos staunt.
2. Chr. 9,7 „Glücklich sind deine Männer und glücklich diese deine Knechte, die ständig vor dir stehen und deine Weisheit hören! 8 Gepriesen sei der HERR, dein Gott, der Gefallen an dir
gehabt hat, dich auf seinen Thron zu setzen als König für den HERRN, deinen Gott! Weil dein Gott Israel liebt, um es ewig bestehen zu lassen, hat er dich als König über sie gesetzt, damit du
Recht und Gerechtigkeit übst.“
Auch hier denkt man im ersten Moment an die Arbeitsbedingungen der Diener Salomos oder dass es vielleicht unterhaltsam ist, einen so klugen Chef zu haben. Die nachfolgenden Verse machen aber
deutlich, dass sie in der Weisheit Salomos ein Geschenk Gottes und ein Zeichen dafür sieht, dass er dieses Volk für alle Zeit bestehen lassen würde.
Eine ähnliche Bedeutungsentwicklung finden wir in den Sprüchen.
Spr 3,13 „Glücklich der Mensch, der Weisheit gefunden hat, der Mensch, der Verständnis erlangt! 14 Denn ihr Erwerb ist besser als Silber und ⟨wertvoller⟩ als Gold ihr Gewinn. 15 Kostbarer ist
sie als Korallen, und alle deine Kleinode kommen an Wert ihr nicht gleich. 16 Länge des Lebens ⟨ist⟩ in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre. 17 Ihre Wege sind freundliche Wege, und
alle ihre Pfade sind Frieden. 18 Ein Baum des Lebens ist sie für ⟨alle⟩, die sie ergreifen, und wer an ihr festhält, ist glücklich zu preisen.
19 Der HERR hat durch Weisheit die Erde gegründet, den Himmel befestigt durch Einsicht. 20 Durch seine Erkenntnis brachen die Fluten hervor, die Wolken triefen von Tau. –
21 Mein Sohn, lass sie nicht weichen aus deinen Augen, bewahre Umsicht und Besonnenheit! 22 So werden sie Leben sein für deine Seele und Anmut für deinen Hals. 23 Dann gehst du sicher deinen
Weg, dein Fuß stößt nirgends an. 24 Wenn du dich hinlegst, wirst du nicht aufschrecken, und liegst du, tut dein Schlaf ⟨dir⟩ gut. 25 Fürchte dich nicht vor plötzlichem Schrecken noch vor dem
Verderben der Gottlosen, wenn es ⟨über sie⟩ kommt! 26 Denn der HERR ist deine Zuversicht und bewahrt deinen Fuß vor der Falle.“
Die Weisheit ist kostbarer als alle Schätze der Erde, weil sie Leben bringt. Aber das ist nicht einfach die Folge eines vorsichtigen Verhaltens sondern des Friedens mit Gott, zu dessen Schalom
die Wege der Weisheit führen. Der Gedankengang des Textes baut auf der Beobachtung auf, dass die Weisheit eine Wesenseigenschaft Gottes ist und der Mensch langfristig nur dann wahres Glück haben
kann, wenn er im Lernen und Beherzigen der Weisheit Gott zu seiner Zuversicht hat.
Interessant ist für den Leser natürlich die Frage, ob es nicht auch Fälle gibt, in denen die Weisheit eben doch einen Nachteil mit sich bringt, weil eine gottlose Entscheidung das Leben hier auf
der Erde angenehmer machen könnte. Dieser Gedanke taucht im Text nur indirekt auf, denn Weisheit ist hier offensichtlich keine Anlageweisheit, sie ist gerade besser als Kostbarkeiten. Daneben
verheißt sie Ehre, Frieden, Schutz, Leben für die Seele, Anmut für den Hals und das Wissen, dass Gott den Menschen schützt. Der Text versucht also gar nicht, den Eindruck zu erzeugen, dass
Weisheit maximalen Gewinn bringt, aber er verspricht Frieden mit Gott, der auch im Diesseits viel Gutes bringen kann aber letztlich alles toppt, was dieses Leben zu bieten hat.
Wenn man diese Verheißung ernst nimmt, sagt sie, dass der Friede mit und in Gott wichtiger ist als materieller Gewinn. Der Blick wird dabei immer von den kurzfristigen Vorteilen auf das
längerfristige Ziel der Gemeinschaft mit Gott gelenkt und der Mensch durch die Weisheit dazu erzogen, geistlicher Freude mehr Wert beizumessen als körperlich materieller. Wenn diese Erziehung
keine Lüge sein soll, dürfen wir darin die Verheißung des ewigen Lebens herauslesen und die Formulierung vom Leben für die Seele vielleicht auch genau so verstehen.
Der Gedanke der Ewigkeit wird der Weisheit zugeschrieben, weil sie vor allen Werken war und daher auch ewig Bestand haben wird. Genau deswegen wird direkt im Anschluss an das Lob der ewigen
Weisheit die Mahnung angeschlossen, diese Weisheit nicht zu verlassen, weil sie Leben bringt.
Spr 8, 22 „Der HERR hat mich geschaffen als Anfang seines Weges, als erstes seiner Werke von jeher. 23 Von Ewigkeit her war ich eingesetzt, von Anfang an, vor den Uranfängen der Erde. 24 Als
es noch keine Fluten gab, wurde ich geboren, als noch keine Quellen waren, reich an Wasser. 25 Ehe die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln war ich geboren, 26 als er noch nicht gemacht die
Erde und die Fluren, noch die Gesamtheit der Erdschollen des Festlandes. 27 Als er den Himmel feststellte, war ich dabei. Als er einen Kreis abmaß über der Fläche der Tiefe, 28 als er die Wolken
droben befestigte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, 29 als er dem Meer seine Schranke setzte, damit das Wasser seinen Befehl nicht übertrat, als er die Grundfesten der Erde abmaß: 30 da
war ich Schoßkind bei ihm und war ⟨seine⟩ Wonne Tag für Tag, spielend vor ihm allezeit, 31 spielend auf dem ⟨weiten⟩ Rund seiner Erde, und ich hatte meine Wonne an den
Menschenkindern.
32 Nun denn, ihr Söhne, hört auf mich, denn glücklich sind, die meine Wege wahren! 33 Hört auf Zucht und werdet weise, lasst sie niemals fahren! 34 Glücklich der Mensch, der auf mich hört,
indem er wacht an meinen Türen Tag für Tag, die Pfosten meiner Tore hütet! 35 Denn wer mich findet, hat Leben gefunden, Gefallen erlangt von dem HERRN. 36 Wer mich aber verfehlt, tut sich selbst
Gewalt an. Alle, die mich hassen, lieben den Tod.“
Das Leben, von dem hier die Rede ist, scheint auf den ersten Blick vor allem im Diesseits angenehmer und friedvoller zu sein, wenn es schon nicht den Lustgewinn maximiert. Der Hinweis auf den
ewigen Bestand der Weisheit macht sie aber auch zu einem ewigen Besitz für den Menschen, der sie sucht. Wenn in diesem Zusammenhang das Leben versprochen wird, erscheint das oft längere und
glücklichere Leben des Wesen, dass sie ein Versprechen über das Diesseits hinaus hat.
Der Begriff asre kann also nicht nur verschiedene Bedeutungsebenen von „Glück“ annehmen sondern sieht in den niedrigeren schon die höheren, was aber auch bedeutet, dass er nur dann verwendet
wird, wenn die höheren nicht ausgeschlossen werden. Für einen Dieb, der nicht erwischt wurde, würde er wohl nicht gebraucht werden.
Das Wort asre ist also sehr dynamisch in seiner Bedeutung und sieht in kleinen Gesten schon das Heilswirken Gottes. Und genau so sollten wir auch die Seligpreisungen lesen: nicht als sichere
Heilszusagen sondern als durchaus unterschiedliche Ebenen auf dem Weg, den Gott mit Menschen geht, wenn er sie zu seinem Heil führen will.
Auf diese Weise kann sowohl für den Armen als auch den Märtyrer dasselbe Wort verwendet werden, ohne dass damit ein identischer Heils-Status suggeriert würde, denn der Begriff asre selbst ist
nicht statisch.
Trotzdem stellt sich die Frage, ob es eine verbindende Eigenschaft zwischen den verschiedenen in den Seligpreisungen aufgezählten Personengruppen gibt.
Deutung der Seligpreisungen
Wir haben durch die Wortanalyse schon gesehen, dass der Begriff, der hier verwendet wird, eine Bedeutungs-Dynamik enthält, die im AT typisch ist für uns aber unvertraut. Hier soll es um den
Versuch gehen, dieses Wissen für eine Auslegung der Seligpreisungen nutzbar zu machen und die Frage zu beantworten: Welche Verständnismöglichkeiten sind für die Seligpreisungen denkbar und welche
wahrscheinlich?
Zusammenfassung
Wer die Seligpreisungen richtig liest, wird also vielleicht im ersten Moment die Anspielungen auf die Alltagserfahrungen bemerken. Nur wer weint, wird getröstet, nur wer sanftmütig ist, wird das
Land erben - und eben nicht die Rebellen. Und man sieht sich auf einmal in einer Reihe mit anderen, die vielleicht ein anderes Schicksal teilen aber nun als Teil von etwas Gemeinsamen betrachtet
werden, als neue Gemeinschaft des Reiches Gottes.
Die in den Seligpreisungen genannten Menschengruppen erleben alle eine unterschiedliche Phase eines Ablösungsprozesses in diesem Leben, der sie dem Reich Gottes nicht nur näher bringt sondern
ihnen das Bewusstsein weckt, Teilhaber dieses neuen Reiches zu sein. Was vorher leidvoll für sie war ist jetzt ein Zeichen dafür, dass Gott sie auf einen guten Weg führt.
Diese Zusage gilt also dem Gottesvolk und wird von Jesus zugesprochen, der als der Redende die Verheißungen in Aussicht stellt.
Er ruft sein bedrängtes Volk und stellt ihm Trost in Aussicht, den sie in ihrem Ablösen von dieser Welt sich als Teil der neuen Welt erfahren und darin eine unvergängliche Hoffnung haben.
Jesus könnte also im Kern mit den Seligpreisungen sein Volk berufen haben. Selig ist, wer sich treu zu diesem Volk Gottes zählt und alle Hilfe allein von Gott erwartet, denn er wird Teil des
Reiches Gottes, das zwar hier auf der Erde nicht zu verorten aber dennoch mächtig ist. Ihm gelten alle Verheißungen sogar über den Tod hinaus.
Wir kommen daher noch einmal ausführlicher auf den Heilandsruf in seiner bekannten kurzen Form in Mt 11, 28 ein:
„Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen! Und ich werde euch Ruhe geben.“
In diesem Satz zitiert Jesus Jeremias 6,16, wo Gott sein Volk zur Umkehr rufen möchte, um ihm Ruhe zu geben.
Jer 6,16 „So spricht der HERR:
Tretet auf die Wege, seht und fragt nach den Pfaden der Vorzeit, wo denn der Weg zum Guten sei, und geht ihn! So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.
Aber sie sagen: Wir wollen ihn nicht gehen.
17 Und ich habe Wächter über euch bestellt ⟨, die rufen⟩: Achtet auf den Schall des Horns!
Aber sie sagen: Wir wollen nicht ⟨darauf⟩ achten.
18 Darum hört, ihr Nationen, und erkenne, du Gemeinde, was mit ihnen ⟨geschieht⟩! 19 Höre es, Erde!
Siehe, ich bringe Unheil über dieses Volk, die Frucht ihrer Gedanken.
Denn auf meine Worte haben sie nicht geachtet, und mein Gesetz – sie haben es verworfen.
20 Wozu soll mir denn Weihrauch aus Saba kommen und das gute Würzrohr aus fernem Land?
Eure Brandopfer sind mir nicht wohlgefällig, und eure Schlachtopfer sind mir nicht angenehm.
21 Darum, so spricht der HERR: Siehe, ich lege diesem Volk Anstöße ⟨in den Weg⟩, dass sie darüber stürzen, Väter und Söhne miteinander; der Nachbar und sein Nächster kommen um.“
Der Text scheint auf den ersten Blick für die Hörer schlecht auszugehen. Wenn man den Zusammenhang betrachtet, liegt dort aber eine Heilsverheißung verborgen: Warum legt Gott seinem Volk denn
einen Anstoß in den Weg, wenn er es nicht zur Ruhe bringen möchte, von der er am Anfang spricht?
Zur Zeit Jeremias führte der Heilsruf Gottes noch ins Leere. Das Volk gehorchte nicht und kam unter das Gericht. Wenn Jesus also diesen Aufruf zitiert, kündigt er einen neuen Heilsaufruf an und
sagt damit, dass noch nicht alles vorbei ist sondern etwas neues beginnt.
Das makarios, von dem Jesus spricht, ist der Zustand, wenn die Seele zu Hause ankommt und Frieden findet. Und vielleicht beginnt der Zustand schon im ersten Schritt, dem Unwohlfühlen in der
Fremde, dem Heimweh, der Reise und schließlich dem Ankommen. Die Seligpreisungen sprechen Menschen auf verschiedenen Stadien ihres Weges zurück zu ihrem Schöpfer an und fordern sie auf, ihre
Armut, ihre Traurigkeit und das erlittene Unrecht als Gottes Weg mit ihnen zu sehen und diesen Weg nicht zu verlassen sondern ihn lieb zu gewinnen. Sie sind auf diesem Weg nicht alleine und
beginnen die anderen Menschen in ihrem jeweiligen Abschnitt als Teil einer Gemeinschaft zu sehen die Gott in seine ewige Herrschaft berufen hat.