Es ist eine der vielleicht rätselhaftesten Erzählungen des Alten Testamentes: Jakob wird eines Nachts von Gott in Gestalt eines Mannes angegriffen und kämpft mit ihm. Und wäre das noch nicht
erstaunlich genug, kann dieser Mann Jakob nicht überwinden und segnet ihn später. Das Ereignis kommt nicht nur völlig überraschend sondern nimmt auch einen ebenso überraschenden Verlauf. Wie ist
das zu verstehen?
Der Kampf beginnt in Genesis 32,25b - also auch mitten im Vers - und endet in Vers 32. Eingebettet ist er in einer ausführlichen Schilderung von Jakobs Rückreise in seine Heimat, wobei ich die
Gründe sowohl für die Reise als auch für die Rückreise jetzt mal als bekannt voraussetze.
Was die bevorstehende Ankunft in der Heimat zu einem Wagnis machte, war die Unsicherheit, ob der Zorn Esaus in der Zeit von Jakobs Abwesenheit verraucht ist, und diese Unsicherheit wächst sich
bei Jakob zu einer regelrechten Panik aus, als er von Boten erfährt, dass Esau ihm mit vierhundert Reitern entgegen kommt.
Jakobs wählt nun eine Besänftigungs-Strategie, um die möglicherweise noch vorhandene Wut Esaus in einer schieren Flut an Geschenken versanden zu lassen. Bei diesem Vorgehen kommt auf jeden Fall
sein überlegtes strategisches Vorgehen durch, vielleicht auch sein Hang zur Manipulation, mit Sicherheit aber der Stratege, der sein Glück in die eigene Hand nimmt.
Ein wichtiger Schritt in der Vorbereitung betraf die Schadensbegrenzung im eigenen Haus, falls die Geschenke nicht die erhoffte Wirkung zeigen sollten, denn er teil seine Großfamilie in drei
Gruppen ein, wobei seine Lieblingsfrau mit ihrem Sohn ganz hinten steht und die anderen weiter vorne. Auf diese Weise sorgt er für traurige Klarheit, welche Menschen in seiner Familie ihm wie
wichtig sind. Dieses Vorgehen hat verständlicherweise zu einem tiefen Zerwürfnis in der Familie beigetragen, das sowohl kurz- als auch langfristig tiefgreifende Folgen hatte. So grausam und
ungeschickt dieses Vorgehen auch sein mag, es lag leider in seiner Familie, denn Jakobs eigene Geschichte beginnt mit den Worten, dass sein Vater Esau lieber hatte und daraus offenbar überhaupt
keinen Hehl gemacht hatte.
Jakob selbst brachte seine Familie dann über den Jabbok und ging aus nicht näher genannten Gründen noch einmal zurück. Denkbar wäre, dass er sein Gebet aus den V. 10-13 dort in ähnlicher Form
wiederholt gebetet hat. Vermutlich dürfte sich in diesen wenigen Tagen sein Denken vor allem in Planung und Gebet aufgeteilt haben.
Warum wird dieses Treffen mit Esau eigentlich so ausführlich erzählt, immerhin geht es ja letztlich gut aus und hat keine Konsequenzen?
Der Moment von Jakobs Rückkehr ist aus mehreren Gründen von besonderer Bedeutung: erstens endet mit ihr die Erzählung der Patriarchen im eigentlichen Sinne, bevor die Erzählungen sich dann
mit den Söhnen Jakobs beschäftigt.
Es ist aber auch eine wichtige Erzählung, weil das verheißene Erbe jetzt zum ersten Mal wirklich auf die Probe gestellt wurde. Bis dahin verlief es weitgehend parallel zu der Familiengeschichte
des sehr mächtigen Abraham und seines Sohnes. Bei Jakob wurde der Segen aber gegen den Willen seines Vaters und erst recht gegen den seines Bruders erschlichen und er konnte nicht mehr auf die
Freundlichkeit familiärer Bande zählen sondern musste fliehen. Die Familie blieb also in der Heimat und der Segensträger wurde vertrieben. Die Geschichte der Verheißungen könnte damit eigentlich
zu Ende sein.
Aber dann sagte Gott zu Jakob, dass er wieder in seine Heimat zurück kehren solle (Gen 31,3)
Dieses Land war ihm verheißen und jetzt sollte Jakob es gegen den Willen seiner Feinde auch wieder einnehmen, der Plural ist schon richtig, denn Jakob hatte bereits zwei Feinde: Der erste Feind
war Laban, der die Abreise gerne verhindert hätte, der zweite Esau, der die Einreise vermutlich gerne verhindert hätte. Sowohl dem Zugriff Labans als auch Esaus versuchte Jakob sich durch Tricks
zu erwehren: von Laban floh er einfach heimlich mit seiner ganzen Familie. Esau versuchte er, durch Geschenke zu besänftigen. In beiden Fällen musste er aber im Nachhinein erkennen, dass es
seiner Strategien aber Gott war, der ihn beschützt hat.
Laban ritt Jakob zwar noch nach, wurde aber von Gott ermahnt, Jakob nicht anzutun, denn bei der Begegnung mit Jakob sagte er ihm:
„29 Es stünde in der Macht meiner Hand, übel mit euch zu verfahren. Aber der Gott eures Vaters hat gestern Nacht zu mir geredet und gesagt: Nimm dich in Acht, mit Jakob Gutes oder Böses zu
reden!“
Elberfelder Bibel (Witten; Dillenburg: SCM R. Brockhaus; Christliche Verlagsgesellschaft, 2016), Gen 31,29.
Und als Jakob später Esaus freundliche Aufnahme erlebt, erkennt er auch darin das Wirken Gottes.
„10 Jakob aber sagte: Nicht doch; wenn ich überhaupt Gunst gefunden habe in deinen Augen, dann nimm mein Geschenk aus meiner Hand! Denn ich habe ja doch dein Angesicht gesehen, wie man das
Angesicht Gottes sieht, und du hast Gefallen an mir gehabt.“
Elberfelder Bibel (Witten; Dillenburg: SCM R. Brockhaus; Christliche Verlagsgesellschaft, 2016), Gen 33,10.
Jakob agierte also noch, als wäre er auf sich alleine gestellt, erlebte aber bei beiden Feinden, dass Gott ihm letztlich zur Seite stand.
Aber auch wenn man sich seine Strategien ansieht, fällt auf, dass sich sein Stil verändert hat. Während er früher selbst vor Lügen gegenüber dem eigenen Vater auf dem Sterbebett nicht zurück
schreckte, wirkte seine Flucht vor Laban eher wie ein Versuch, Streit lieber aus dem Weg zu gehen. Und die Geschenke an Esau mögen berechnend gewesen sein, sie entsprachen aber durchaus dem
orientalischen Verhalten, wenn man einen Höhergestellten um Gunst bitten wollte. Es war also eher eine durchschaubare Strategie mit einem ehrlichen - und dazu noch außergewöhnlich großzügigen -
Angebot.
Jakob hatte also gelernt. Er war immer noch ein Stratege, aber sein Verhalten ist sanfter geworden.
Aber was hatte er eigentlich genau gelernt? Das man mit Freundlichkeit weiter kommt im Leben? Oder vielleicht sogar mit feiger Unterwürfigkeit? Hat er wirklich eine tiefgreifende Entwicklung an
seinem Charakter erfahren oder einfach nur die Strategie geändert?
Und welche Rolle spielte Gott in seinen Augen, wenn er wieder Pläne schmiedete? Setzte er alles auf seine Pläne und dankte Gott anschließend aus purer Höflichkeit? Oder war sein Glaube
echt?
Genau diese wichtigen Fragen, ließen sich aufgrund der bisherigen Geschichte nicht klar beantworten. Sie waren aber wichtig, wenn er jetzt wieder in die Heimat ziehen würde und dort offiziell als
Patriarch dieser Familie mit ihrer großen Verheißung zu werden.
Es ging um die Frage, ob die Verheißungen Gottes nur die Begleiterzählung einer Familiengeschichte war, oder ob sie sich bewahrheiten würden. Und Jakob merkte, dass jetzt alles auf dem Spiel
stand und es trotz aller Geschenke um die Frage ging, ob Gott ihm dieses Land geben würde. In seiner Angst hat er sich an Gott gewandt, und er wäre wohl auch später Gott dankbar, wenn Esau ihm
freundlich begegnet. Aber es bliebe immer die Unsicherheit, ob nicht doch seine Geschenke den entscheidenden Effekt auf Esau gehabt hatten. Gott kannte Jakob natürlich und wusste genau, ob Jakob
glaubte. Jakob selbst wusste das noch nicht.
Daher tat Gott in der Nacht vor der Begegnung etwas, was den Leser zunächst erstaunt: er griff Jakob ohne Vorwarnung an. Der Kampf wird knapp erzählt, muss aber dramatisch verlaufen sein, denn es
heißt, dass sie bis zur Morgenröte kämpften. Möglicherweise stundenlang. Offenbar war es nicht die Aufgabe des Mannes, Jakob zu töten oder zu verletzen sondern schlicht, ihn zu besiegen,
vielleicht sich ihm in den Weg zu stellen und ihn dadurch am Übertritt des Jabbok zu hindern, aber was auch immer sein Ziel gewesen sein mag, Jakob ließ sich nicht besiegen.
Ich stelle mir den Kampf so vor, dass der Mann Jakob immer wieder zu Boden rang und „nach Punkten“ eigentlich gesiegt hätte. Ein Sie durch K.O. oder Tod war offenbar nicht vorgesehen. Aber Jakob
hielt sich nicht an die einfachsten menschlichen Spielregeln, dass man einen verlorenen Kampf aufgibt sondern griff offenbar immer wieder an. Wenn man tatsächlich von einem Kampf von mehreren
Stunden ausgeht, kann man erahnen, was für eine Wut in Jakob angetrieben haben muss, wenn er in diesem hoffnungslosen Kampf nicht aufgeben konnte.
Ich habe mich auch gefragt, ob in diesem Moment auch sein ganzer Frust über die Zurücksetzungen seines eigenen Vaters zum Vorschein kamen, der wahrscheinlich ständig seinen Bruder bevorzugt
hatte. Wenn Jakob etwas brauchte oder wünschte, musste er es sich erschleichen. Ob es Wut war oder nicht, wissen wir nicht, auf jeden Fall würde sich menschliche Wut irgendwann erschöpfen. Was
Jakob eigentlich im Kampf hielt, war etwas anderes, das sich in der nächsten Phase zeigte.
Jakob hatte bewiesen, dass er nicht aufhören würde. Daher „berührte" der Mann seine Hüfte und kugelte dieses starke Gelenk aus, was nicht nur extrem schmerzhaft gewesen sein muss, sondern auch
jeden weiteren Kampf endgültig beendete. Wie würde Jakob reagieren, als ihm die letzten Möglichkeiten zum Kämpfen genommen wurden und Gott ihm weiter entgegen stand?
An dieser Stelle nimmt der Kampf eine verblüffende Wendung, denn Jakob, klammerte sich an dem fremden Mann fest und bat ihn um dessen Segen. Aus dem Gegner wurde derjenige, von dem er alles Gute
erwartete - und bekam. Das Verhalten zeigt, dass es bei dem Kampf zumindest nicht nur um den Versuch ging, den eigenen Willen gegen Gott durchzuringen sondern von ihm Hilfe zu bekommen,
also eine Hilfe, die völlig unsichtbar hinter dem kämpfenden Gott verborgen war aber an die Jakob offenbar die ganze Zeit in irgendeiner Form geglaubt hatte. Jetzt, wo der Kampf zu Ende war,
zeigt sich ein ganz neues Bild von Jakob als einem Mann, der selbst dann, wenn Gott ihm entgegen zu stehen scheint, nicht aufhört, zu ihm zu beten und alles Gute von ihm zu erwarten. Und genau
das belohnte Gott.
Vielsagend ist auch der neue Name: aus Jakob, dem Fersenhalter und Betrüger ist ein Mann geworden, der den Titel „Gottesstreiter“ („Israel“) verliehen bekam, denn, so die Begründung Gottes, er
habe mit Menschen und Gott gekämpft und obsiegt.
Gott sah seine vielen Kämpfe gegen alle möglichen Menschen aber in dem Kampf am Jabbok trat eine andere Seite zum Vorschein, nämlich eines Mannes, der im entscheidenden Moment auch wusste, wie er
mit Gott ringen musste. Und Gott schien Gefallen daran zu finden und lobte Jakob dafür.
Man fragt sich vielleicht, weshalb der Kampf gerade nachts stattfand und Jakobs Gegner ihn offenbar auch vor Anbruch des Tages beenden wollte. Ausleger verweisen dabei auf sagenhafte Vorlagen,
auf eine Chiffre des Unbewussten usw.
Im Alten Testament ist die Nacht auf jeden Fall die Zeit, in die Menschen ruhen sollen, im Gegensatz zum Tag, der für ihre Arbeit gedacht war (Psalm 104,23), und genau das sind auch die Themen,
um die es in der vorliegenden Erzählung geht - Arbeit und Vertrauen. Man kann die Frage anhand der Tageszeiten daher auch so formulieren: Jakob mag tagsüber seine Vorbereitungen treffen, aber wie
geht er mit der Nacht um, wenn er nicht arbeiten kann? Was macht er, wenn er mit seinem Verstand und seiner Klugheit am Ende ist, denn auch dafür steht die Nacht, für die Zeit, in der unser
Verstand schläft und wir in Kontakt zu den tieferen Bereichen unserer Seele offen werden. Und dafür muss man keineswegs unterstellen, dass der Kampf nur ein Traum war (die verrenkte Hüfte
versuchen manche als psysosomatische Folge eines dramatischen Alptraumes zu interpretieren, in der Erzählung selbst dient sie ziemlich eindeutig dazu zu beweisen, dass es sich gerade nicht um
einen Traum handelt). Die Nacht war die Zeit, in der Jakob nur eingeschränkt aktiv werden konnte und seine Wahrnehmung geschwächt war. Das war die Zeit, in der die Frage beantwortet werden
musste. Wenn die Sonne aufging, würde er sich wieder in die Vorbereitung stürzen. Gott nahm ihn für die viel wichtigere Frage daher nachts beiseite.
Der Kampf erinnert in seinem Verlauft an die Begegnung zwischen Jesus under Syrophönizischen Frau in Mt 15, 21-28. Die Frau schrie und bettelte Jesus an, damit er ihre Tochter heilte, eine
Strategie, mit der auch die damals schwächer gestellten Frauen wohl doch noch öfter ihren Willen bekommen haben dürften. So schwach das Geschrei vielleicht wirkte, so nervtötend und mächtig war
es in seiner Wirkung und verfehlte diese auch nicht bei den Jüngern. Es war also ein ziemlich wirkungsvolles Druckmittel, mit dem diese Frau ihren Willen von Jesus einfordern wollte - aber Jesus
blieb hart.
Die Frau ähnelt an der Stelle dem Jakob, der sich nicht unterkriegen lässt und seine menschlichen Strategien fährt. Als sie - ebenfalls wie Jakob - nicht locker lässt, weist Jesus ihre
Bitte ausdrücklich und mit dem Hinweis auf seine Sendung zum Haus Israels klar und demütigend ab. Dieser Vorgang entspricht dem Schlag auf Jakobs Hüfte. Jesus würde ihr nicht helfen, Jakobs Kampf
war zu Ende.
Das überraschende Moment in beiden Geschichten ist aber, dass beide Menschen, die scheinbar die harte Seite Gottes erleben mussten, unter dieser Niederlage gegenüber Gott eine neue Seite zeigen
und statt sich verbittert abzuwenden zu lernen demütig zu bitten. Jakob verlangte jetzt nicht mehr als den Segen Gottes, die Frau fügt sich in die zurückgesetzte Stellung hinter Israel. Und in
beiden Geschichten ist das der Zeitpunkt, an dem Gott zur Hilfe ausrückt. Jakob wird nicht nur gesegnet sondern in die Streitkräfte des Lebendigen Gottes aufgenommen, er wird wohlbehalten über
den Jabbok geführt und darf in Frieden in seine Heimat einziehen. Und die Frau erlebt die Heilung ihrer Tochter durch Jesus.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Jakob (ebenso wie die Frau) lernen musste, richtig zu beten. Er musste lernen, wie die Witwe und der bittende Freund in den Gleichnissen von Jesus, beharrlich
zu bitten und sich nicht abschrecken zu lassen, wenn Gott scheinbar sein Gegner wird. Um so beten zu können, musste er lernen zu glauben und auf das zu hoffen, was allem Anschein widersprach. Und
genau das macht das Merkwürdige des Kampfes aus, in dem auf einmal ein kindliches Vertrauen und betteln aufscheint, mit dem der Leser und vielleicht auch Jakob selbst nie gerechnet hätte. Und
genau das belohnte Gott, der sich von dem Glauben Jakobs gerne überwinden ließ.
Dass Jakob auch genau diese Lehre aus dem Kampf gezogen hat, zeigt er in der Reaktion auf Esaus freundliche Begegnung, wo er in ihm die Freundlichkeit Gottes selbst sieht.
Interessanterweise erfahren wir gar nicht, ob seine Geschenkt letztlich etwas bewirkt hatten, aber er schrieb die Freundlichkeit Esaus jetzt dem Wirken Gottes zu.
Und seine Nachkommen durften aus der Geschichte lernen, dass es alles Gute von Gott erwarten darf und soll - selbst wenn Gott sich ihm in den Weg stellen würde. Denn auch das sollten sie noch
erleben.
„Und er wurde ihnen zum Retter 9 in all ihrer Not. Nicht Bote noch Engel – er selbst hat sie gerettet.* In seiner Liebe und in seinem Erbarmen hat er sie erlöst. Und er hob sie auf und trug
sie alle Tage der Vorzeit. 10 Sie aber, sie sind widerspenstig gewesen und haben seinen heiligen Geist betrübt. Da wandelte er sich ihnen zum Feind: Er selbst kämpfte gegen sie.
11 Da dachte man ⟨wieder⟩ an die Tage der Vorzeit“ (Jesaja 63, 8-11)
Elberfelder Bibel (Witten; Dillenburg: SCM R. Brockhaus; Christliche Verlagsgesellschaft, 2016),