Die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin gehört zu den wohl beliebtesten Erzählungen des Neuen Testamentes, und obwohl sie theologisch keineswegs anspruchslos ist, scheint jeder eine recht
klare Vorstellung davon zu haben, was sie bedeutet. Und wenn die Vorstellung nicht so klar ist, dann scheint es doch irgendwie darum zu gehen, religiösem Fanatismus den Wind aus de Segeln zu
nehmen und die Gebote, wenn schon nicht ganz außer Kraft zu setzen, dann doch in nicht ganz so streng auszulegen.
Die Ausgangssituation ist schnell erklärt und von den Gegner klug angelegt: Israel stand unter römischer Besatzung und hatte dadurch erhebliche Einschränkungen in seiner staatlichen und
religiösen Souveränität in Kauf zu nehmen, die nicht zuletzt darin besteht, dass es keine Todesurteile vollstrecken durfte. In der Tora war allerdings nicht nur das Verhalten geregelt sondern
auch das Strafmaß, und das sah eben in manchen Fällen die Todesstrafe vor - z.B. eben für Ehebruch (3. Mose 20,10). Das bedeutete also, dass Israel die Tora nicht mehr anwenden konnte.
Bis zu einem gewissen Grad konnte man sich in diesem politischen Dilemma damit behelfen, dass man einerseits versucht, die Ansprüche an die Todesstrafe sehr hoch zu hängen und das Gesetz über die
Schmerzgrenze hinweg spitzfindig erodierte. In einem Vortrag von Guido Baltes hat er einige Beispiele von Rabbinern erwähnt, die sich in ihrer Einschätzung, wie selten der Hohe Rat
überhaupt ein Todesurteil ausgesprochen hat, geradezu überboten.
Ein anderer Weg bestand offenbar darin, die Ausführung der Todesstrafe sehr nachlässig auszuführen, so dass aus einer Steinigung eher eine Körperstrafe wurde, bei der es zum Tod kommen konnte
aber nicht musste. Paulus hat seine Steinigung überlebt (Apg 14,19), Stephanus allerdings nicht (Apg 7, 59).
Vielleicht haben sich auf diese Weise beide Seiten, also sowohl Juden als auch Römer, um den formal-rechtlichen Umstand herumgemogelt, dass eigentlich nur die Römer Todesstrafen verhängen
durften, aber den Juden noch ein gewisses Maß an Selbstständigkeit zugebilligt werden sollte, um den öffentlichen Frieden zu waren. Wirklich befriedigend war die Situation aber wohl für
niemanden, und als Jesus jetzt als Gesetzeslehrer auftrat, der das Gesetz ganz neu zur Geltung brachte, kam die Frage für seine Gegner sehr gelegen, wie er ganz konkret den Fall einer
Ehebrecherin beurteilen würde. Mit dieser Frage hatten sie aus ihrer Sicht nur günstige Ausgänge zu erwarten: entweder hätte Jesus ebenfalls angefangen, das Gesetz mit juristischen
Spitzfindigkeiten zu untergraben - dann wäre seine Autorität als Lehrer gebrochen. Oder er würde eine Steinigung verhängen - dann wäre nicht nur sein Ruf als Helfer der Armen und Schwachen
gefährdet sondern man könnte ihn darüber hinaus bei den Römern anzeigen. Daraus könnten sich wiederum zwei Szenarien entwickeln: entweder Jesus würde verurteilt, dann wäre er aus dem Weg und an
dem Programm, die Römer zu vertreiben, offensichtlich gescheitert. Oder, zweiter möglicher Ausgang, er würde unter dem Druck doch zu den Waffen rufen und Israel wieder zu Autonomie
verhelfen.
Ganz ähnliche Anfragen hören übrigens auch Christen, die die Bibel ernst nehmen, immer wieder: wenn du sagst, die Bibel ist für dich verbindlich, wie gehst du dann mit den Geboten des Alten
Testamentes um? Die Frage ist also brandaktuell, und die Reaktion von Jesus um so interessanter. Und wie antwortet er? Zunächst eben gar nicht. Er schreibt mit den Finger in den - und jetzt wird
es interessant: Sand, Erdboden, Boden oder Staub. Noch schwieriger ist, dass es an dem Ort, an dem die Szene spielt, nämlich dem Tempel, überhaupt keinen Sand oder losen Boden gibt sondern einen
gepflegten Steinboden in den man definitiv nichts mit dem Finger schreiben konnte. Das Wort, das dort im Griechischen verwendet wird, bedeutet auch eher „Boden“ oder „Erdboden“ und ganz sicher
nicht „Sand“.
Es hat die Theologen daher verständlicherweise immer wieder umgetrieben, was Jesus dort geschrieben haben könnte. Manche sahen darin einfach eine Verzögerungstaktik, viele sind auch auf den
naheliegenden Gedanken gekommen, im Alten Testament nach Parallelen zu suchen, wo etwas in den Sand geschrieben wird und dabei auf Jer 17,13 gestoßen.
„HERR, du bist Israels Hoffnung! Wer dich verlässt, der wird scheitern. Wer sich von dir abwendet, dessen Name vergeht so schnell wie ein Wort, das man in den Sand schreibt. Denn er hat dich
verlassen, die Quelle mit Leben spendendem Wasser.“ (Alle Bibelstellen nach der REÜ)
Es könnte also sein, dass Jesus hier eine Gerichtsgeste gebraucht hat und nun die bange Frage im Raum stand, wessen Namen er aufgeschrieben hat.
Die Schwierigkeit der Auslegung besteht darin, dass die Zuhörer aber offenbar gar kein Interesse an dem Inhalt der Worte hatten und offenbar dieser Zusammenhang völlig entgangen sein muss.
Guido Baltes hat in seinem Vortrag einen etwas anderen Weg gewählt und nicht nach „schreiben im Sand“ gesucht sondern nach „Schreiben mit Finger“, was ich für einen viel sinnvolleren Weg halte,
weil der Sand in Joh 8 eben gar nicht ausdrücklich erwähnt wird. Dabei ist er auf die beiden Stellen gestoßen, in denen Gott selbst mit dem Finger schreibt: das Gesetz auf den Steintafeln (2.
Mose 31,18) und die Hand, die auf dem Gastmahl des Königs Belsazar erscheint (Dan 5,5). Jesus könnte hier also eine göttliche Geste aufgegriffen haben, was zumindest eine Teilbedeutung der Geste
sein könnte. Dazu passt auch die Position der gebückten Haltung, denn Jesus hätte sich auch auf den Boden setzen oder hocken können. Das Bücken würde also gut zu dazu passen, dass Gott sich in
seinem Wort zu den Menschen herabbeugt. Die Geste ist Johannes immerhin aufgefallen und wird dreimal erwähnt: Jesus bückte sich, richtete sich wieder auf, um den Anklägern zu antworten und bückte
sich wieder.
Da die meisten Ausleger davon auszugehen scheinen, dass die Geste nur sinnvoll sei, wenn man das Geschriebene auch lesen könne, entstand wohl die Vorstellung von einem Sandboden.
Aber könnte der Witz vielleicht gerade darin bestehen, dass die Schrift unsichtbar blieb? Jesus könnte mit seinem Finger einfach die Bewegung des Schreibens ausgeführt haben.
Ich deute diese Geste als Anspielung auf das Thema, das eigentlich im Raum stand, nämlich die Auslegung und Bedeutung der Schrift auf die Jesus seinerseits mit einer Schrift-Geste antwortet.
Seine Gegner verweisen darauf, was geschrieben steht, Jesus antwortet, indem er eine unsichtbare Schrift auf den Boden malt. Für die Zuschauer blieb die Geste zwar als Schreibvorgang erkennbar
aber der Inhalt blieb verborgen - wie auch uns.
Sie waren also gezwungen, einen Schreibvorgang auf den rein physischen Akt reduziert zu beobachten, weil sie letztlich nur die Bewegung sehen konnten, und ich glaube, dass genau das die Absicht
von Jesus war: er wollte ihnen ihre eigene mechanische Schriftauslegung spiegeln. Gott neigt sich zu seinem Volk und versorgt es mit seinem Wort, aber manche Gelehrten schienen nur an den
Bewegungen des Pinselstrichs bzw. des Fingers hängen zu bleiben und den Gedanken zu vermeiden, dass jede Auslegung ein Beziehungsakt zwischen Autor und Leser bleibt. Eine Steinigung im Alten
Testament hätte ein Rechtswesen vorausgesetzt, das in dieser Form schlicht nicht existierte. Damit wäre sie auch gegen das altestamentliche Gesetz gewesen, was zeigt, dass eine mechanische
Auslegung in diesem Fall eben gerade nicht gesetzestreu gewesen wäre.
Es kommt darauf an, den Willen des Autors zu tun, keine Schrift blind umzusetzen, und genau dieser Aspekt des blinden Umsetzens von Schrift im Sinne einer oberflächlichen Lesart hat Jesus hier
m.E. veranschaulicht. Dazu passt auch, dass im Judentum das öffentliche Lesen des Gesetzes bis heute mithilfe des Jads, einem Zeigestab in der Gestalt einer kleinen Hand mit ausgestrecktem
Finger, vorgenommen wird. Der Leser fährt also die Schrift mit dem ausgestreckten Silberfinger ab und vielleicht war es vielen der Anwesenden eine durchaus vertraute Erfahrung, dass man während
des lauten Lesens in dem kleinen Abschnitt gefangen war, auf den der Zeiger gerade zeigte. Man begann, mechanisch im Vortrag zu werden.
Interessanterweise schien keiner seiner Gegner ernsthaft an seiner Geste interessiert zu sein, denn sie drängten ihn stattdessen zu einer Antwort. Dieses Verhalten ist eigentlich erstaunlich,
wenn man bedenkt, wie groß das Interesse späterer Ausleger noch werden sollte. Vielleicht waren sie klug genug um zu ahnen, dass das Gespräch für sie in eine unerwünschte Richtung gegangen wäre.
Wenn man bedenkt, wie vertraut ihnen ein Finger war, der die Heilige Schrift abfährt, wussten sie vielleicht nur zu gut, wohin sich die Diskussion entwickelt hätte. Es hätte sich die Frage nach
dem Verhältnis von geschriebenem Wort und Bedeutung ergeben, die Möglichkeiten und Grenzen der Auslegung und Interpretation von Texten sowie die Frage, wie das Gebot unter römischer Besatzung
gelebt werden soll. Es wäre eben um ein geistliches Verständnis der Texte gegangen, das gegen die mechanische Auslegung natürlich obsiegt hätte.
Schließlich richtete sich Jesus wieder auf und gab die Antwort: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.“ (Joh 8,7)
Wie hatte Jesus die Ausgangsfrage damit eigentlich beantwortet? In mehrfacher Hinsicht:
Die Frau verdiente die Todesstrafe. Als Richter (der er ja eigentlich gar nicht war aber dessen Amt er hier irgendwie simulieren sollte) hatte er das Recht, zu bestimmen, wer den ersten Stein
werfen sollte. Das war in manchen Fällen in der Tora geregelt, z.B. sollte die Hand des nächsten Betroffenen gegen ihn sein und erst danach das ganze Volk an anderer Stelle kam den Zeugen diese
Pflicht und Verantwortung zu. In anderen Fällen war keine feste Reihenfolge geregelt, so dass möglicherweise der Richter das Recht des ersten Steines vergeben konnte. Und genau davon hätte Jesus
hier Gebrauch gemacht. Diese Regelung hatte wohl den Sinn, dass die Steinigung nicht aus einer Volkswut heraus entstehen durfte und u.U. an der Pflicht des ersten Steinwerfers scheitern konnte.
Wenn ein Zeuge z.B. nicht bereit war, vor dem ganzen Volk den ersten Stein zu werfen, konnte man sein Zeugnis nicht ernst nehmen und die Steinigung durfte nicht durchgeführt werden. Das Scheitern
der Steinigung war also vom Gesetz in diesen Fällen gewollt.
Jesus hätte das Recht dem Ehemann der Frau zusprechen können oder dem Zeugen - falls es nicht der Ehemann war. Seine Wahl hat allerdings die Situation berücksichtigt, dass nämlich keiner der
Beteiligten in irgendeiner Form befugt war, ein Urteil zu fällen. Es war ein Gespräch unter Privatpersonen, und hier galt das Verbot zu richten, das Jesus ja mehrfach wiederholt (Mt 7,3).
Mit seiner Auslegung hat Jesus also das Gesetz so angewendet, wie man es anwenden muss, wenn man es als Ausdruck von Gottes Willen versteht. Auf diese Weise ließ er das Gesetz gerade in Kraft und
lenkte den Blick darauf, dass Auslegung ein Beziehungsakt ist und eine mechanische Umsetzung von Textbausteinen der Absicht des Autors zuwider laufen kann. Aus der Schrift als Beziehungsgeschehen
wird dann nur noch ein blindes Abtasten von Schreibbewegungen, ohne erkennbaren Text. Es ist dann, als würde man mit dem Finger auf den Steinboden schreiben wollen.