Naturmystik - oder: Was glaubt der Westen?

Die Säkularisierung des Abendlandes scheint eine Tatsache zu sein. Von den einen wird sie begrüßt, von den anderen bedauert. Es wird diskutiert, wie weit sie sich bereits entwickelt hat, welche Auswirkungen sie haben mag und wie man sich darauf einstellen sollte. Aber niemand fragt, ob es sie überhaupt gibt, denn die Abkehr vom Christentum führt keineswegs zur Religionslosigkeit sondern bedeutet u.U. nur den Wechsel der Religion.
In diesem Essay vertrete ich die These, dass im Westen eine neue Religion an die Stelle des Christentums getreten ist, eine Religion, die sich ihrer selbst noch nicht bewusst und irgendwie doch jedem vertraut ist.

Natürlich sollte am Anfang so eines Essays der Begriff der „Religion“ selbst geklärt werden, so dass im besten Fall ein Katalog von klaren Kriterien vorliegt, die man nur noch anzulegen braucht. Da es aber keine allgemeingültig Definition von „Religion“ gibt, bliebe mir nur die Entwicklung einer eigenen Definition, die natürlich zu dem vorliegenden Gegenstand passen aber den Leser möglicherweise nicht zufriedenstellen würde. Ich setze daher eine vorhandene Vorstellung des Phänomens beim Leser voraus und überlasse es ihm zu beurteilen, ob das Phänomen seinen Kriterien einer Religion genügt.

Die Grundlagen

Wie der Name vermuten lässt, stehen zwei Dinge im Zentrum der Naturmystik: die Natur und der Wunsch nach einer Vereinigung mit ihr.

Die Natur im Urzustand

Der Natur werden alle Eigenschaften eines Gottes zugeschrieben: sie hat alles aus sich hervorgebracht, gleichsam aus dem Nichts (so genau weiß man das nicht). Sie hat alles in Schönheit und Harmonie geordnet. Sie ist gut und vollkommen.
An dieser Stelle kann man sich fragen, ob es sich bei dieser Vorstellung nicht einfach um einen vielleicht etwas übersteigert optimistischen Materialismus handelt, der ja ebenfalls davon ausgeht, dass alles, was existiert, aus den Grundbestandteilen der Materie erklären lässt. Diese Frage lässt sich im nächsten Abschnitt leicht beantworten, denn…

Der Fall

Durch diese positive Sicht der Natur stellt sich die Frage nach der „Theodizee“: Wie konnte es dazu kommen, dass die Erde ein so unwirtlicher Raum ist in dem Menschen sich so oft schlecht fühlen und benehmen?
Als Antwort verweist der Naturmystiker auf unsere „Entfremdung“ von der Natur. Der Mensch ist mit Körper und Geist eigentlich Teil von ihr und hat daher auch Anteil an ihren guten Eigenschaften. In seinem ursprünglichen Zustand kann er im Einklang mit den Lebewesen seines Umfeldes leben wie in einem Ökosystem. Das schließt auch das Fressen und gefressen werden ein, aber der Mensch ist mit sich dabei im Reinen, weil sein Denken - dass es durchaus auch im Urzustand gab - keine Regeln kennt, die nicht die Natur selbst vorgibt. Auch bestimmte Formen von Religiosität scheinen als Teil des natürlichen Ökosystems vorgestellt werden zu können, besonders die vom Westen so genannten „Natur-Religionen“. Sie scheinen als Relikte aus einer Zeit betrachtet zu werden, in der selbst das religiöse Denken noch Teil der Natur war.

Dieses sensible System wurde durch den Monotheismus ausgehebelt, der als der eigentliche Störer des Ökosystems angesehen wird. Seit die Menschen an den einen Gott glaubten, entstand eine klare Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf und die Menschen entfremdeten sich von ihrer vermeintlich unschuldigen Lebensweise  und unterwarfen sich Regeln, die eben nicht aus ihnen heraus und damit aus der Natur kamen, sondern ihnen von außen auferlegt wurden.
Sie entfremdeten sich von der Natur, weil sie nach übernatürlichen Geboten leben mussten und wurden dadurch auch sich selbst fremd, denn jetzt gab es zum ersten Mal den Konflikt zwischen dem eigenen triebhaften (Er-)Leben und der Vorstellung, dass dieses Leben möglicherweise schlecht sein könnte.
Die Menschen wurden aber auch einander fremd. Sobald nämlich der Gedanke an übernatürliche Regeln im Raum stand, gab es Konflikte über die Regeln selbst, die ja nur noch in der Lehre vermittelt wurden und daher nicht mehr jedem Menschen gleichermaßen zur Verfügung standen.
Und nicht zuletzt wurde der Mensch von der Natur entfremdet, denn es war zu allererst seine eigene Natur, sein Körper, die ihn drängte, gegen die neuen Gebote anzurennen.

Selbst- und Nächstenliebe sowie Umweltschutz hängen in der Naturmystik daher unauflöslich zusammen. Denn da der Natur heilsam-synchronisierende Kräfte zugeschrieben werden, führt wahre Selbstliebe nicht nur automatisch zur Nächstenliebe, sie ist sogar der einzige Weg dorthin! „Zu sich selbst zu finden“ ist der einzige Weg um zu meinem Nächsten und auch zu der Natur zu finden.
 „Sich selbst“ meint hier vor allem den eigenen Körper. Die Menschen entfremdeten sich von ihrem Körper durch Vorstellungen, die ihrem Körper nicht entsprachen und erlebten ihren Körper als Feind, den sie beherrschen mussten. Ähnlich fremd wurde ihnen auch die Natur, die sie nun zu beherrschen versuchten. Durch diesen Bruch wurde die Technisierung des Abendlandes möglich und machte die Natur zur fremden Urlaubswelt.

Die Naturmystik ist daher ihrem Wesen nach Anti-Theistisch und duldet Religion lediglich als Brauchtum und Folklore, solange sie bunt und friedlich ist.
An dieser Stelle muss man natürlich fragen, wie dieser vermeintliche Absturz in die Religiosität in einem so streng atheistischen Glaubenssystem bemerkt werden konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt galt: was passiert ist natürlich und damit gut. Oder um es anders zu sagen: woher stammen die Regeln, die den Monotheismus mit seinen vermeintlichen Folgen negativ bewerten können? War nicht bis zu diesem Zeitpunkt auch der Geist des Menschen ein Produkt der Natur? Konnte der Mensch nicht auch vorher Kriege führen, Tiere und Menschen misshandeln, an übernatürliche Wesen glauben und sich Regeln unterwerfen? Selbst unter höheren sozialen Tieren gibt es Regeln, z.B. dass nur der Alpha-Wolf sich paaren darf, und diese Regeln schmecken den anderen Wölfen auch nicht.
Man sieht also an dieser Stelle, dass die Naturmystik deutlich über den Materialismus hinausgeht, indem sie Natur-Geschichte bewertet. Eine Bewertung, die nicht nur zwischen Gut und Böse unterscheidet sondern auch den Weg zu einer Rückabwicklung kennt und empfiehlt.

Die Erlösung

Ein Ausweg aus diesem Schlamassel besteht darin, sich die eigene Entfremdung bewusst zu machen und den Kontakt zu sich selbst, d.h. dem eigenen Körper, den eigenen Wünschen und Bedürfnissen und der Natur wiederherzustellen. Dies geschieht über den Prozess einer Bewusstwerdung aber auch durch das Einüben einer neuen Praxis, die sich den als natürlich vorgestellten Trieben so weit wie möglich fügt („leibfeindlich“ zu sein ist ein schwerer Vorwurf). Tut der Mensch das nicht, unterdrückt er also seine Triebe, kann es zu „Triebstau“ kommen, „Verklemmungen“, negativer Aggression sowie diversen psychischen und in der Folge auch körperlichen Gebrechen.
 Der Geist hat also durchaus eine Aufgabe, die „Stimme“ des Körpers wieder deutlicher wahr zu nehmen und ihr zu folgen. Erst wenn der Geist nicht mehr als getrennt vom Leib, nicht mehr im Verhältnis von Diener und Herr verstanden und empfunden wird, ist der Mensch geheilt und leidet nur noch unter den Auswirkungen des Falls bei den anderen Menschen.

Die erhofften Folgen sind ein Gefühl der inneren Stimmigkeit von Wollen und Handeln, eine Ruhe in sich selbst und ein tiefer innerer Friede im Einklang mit Mensch und Umwelt, Freude bei der Arbeit, echte liebevolle Beziehungen, ein gesunder Appetit, ein gesunder Körper, Freude an einem gesunden Maß an Sport, eine geringere Neigung, sich manipulieren zu lassen, glückliche Kinder, ein Ende der Umweltzerstörung und der Kriege und am Ende ein friedliches Einvernehmen mit dem Tod, weil auch er natürlich zu dieser Natur gehört.



Ethik

Die Ethik ergibt sich direkt aus dem Erlösungsbestreben des Menschen: Gut ist jede Handlung, die nicht unter dem Einfluss des Monotheismus im allgemeinen oder dem Christentum im Besonderen stehen.
 Wollte man beispielsweise die Brandrodungen der Indianer verurteilen, genügt es nicht zu zeigen, dass dadurch die Umwelt zerstört wird (was natürlich der Fall ist). Man muss zeigen, dass dieses Vorgehen beispielsweise auf den Einfluss christlicher Missionare zurückzuführen ist (was hier natürlich nicht der Fall ist). Erst dann gewinnt das Verhalten eine ethische Dimension und wird als „gefallen“ oder verdorben betrachtet. Solange dieser Nachweis nicht erbracht ist, wird der Naturmystiker bis zum Umfallen dafür argumentieren, was für ein natürliches und schonendes Verfahren die Brandrodung eigentlich ist.


Pädagogik

 Bei den eigenen Kindern versucht man die Wirkungen des Falls weitestgehend fern zu halten. Die Kinder sollen sich „frei“ (immer verstanden im Sinne des oben beschriebenen Erlösungswegs) entfalten können und ihren „eigenen“ Weg gehen. Das ist das höchste Ziel des Naturmystikers. Sie sollen wissen, was ihnen gefällt und sich nicht von anderen davon abbringen lassen. Trotz und Frechheit sind nicht per se schlecht, sondern zunächst einmal Ausdruck eines starken eigenen Willens.
 Nun legt sich die Frage nahe, ob solche Kinder nicht zu lupenreinen Egoisten erzogen werden. Dass der Naturmystiker dies nicht befürchtet, liegt an seinem Glauben an die heilsam synchronisierenden Kräfte der Natur, also dass gerade durch die Selbstliebe alle friedlich zusammen leben - also zumindest auf Dauer irgendwann nach der Pubertät, oder wenn der innere Bewusstseinsprozess abgeschlossen ist oder wann auch immer…

Feminismus

 Da Frauen sowohl von konservativen als auch feministischen Menschen als naturverbundener betrachtet werden (und Männer eher als geistig), wird eine Gesellschaft angestrebt, in der die Frauen herrschen. Der Feminismus hat also nichts mit Gleichberechtigung zu tun, sondern strebt eine neue Gesellschaft mit einer matriarchalen Religion.
 Wen dies näher interessiert, der muss nur zum Stichwort „Matriarchat“ googlen und erhält ziemlich genau das Bild von Naturmystik, das ich bis hierhin entworfen habe.


LGBTQ und religiöses Brauchtum


Es gibt keinen Lebensbereich, in dem religiöse Gesetze und der Wille des Menschen stärker miteinander in Konflikt geraten als die Sexualität. Wem es gelingt, seine Selbstwahrnehmung und sein tatsächliches Leben gegen die Vorstellungen der monotheistischen Weltreligionen aber insbesondere des Christentums auszuleben, wird in der Naturmystik notwendigerweise zum Helden. 
Für alle anderen, die eine Sexualität leben, die sich nicht hinreichend vom christlichen Eheverständnis abgrenzen lässt und damit per se unter dem Verdacht der Entfremdung steht, gibt es aber die Möglichkeit, sich mit der LGBTQ-Bewegung (vermutlich fehlen hier mittlerweile einige Buchstaben) zu solidarisieren: fast jedes Unternehmen schmückt sich und ausgewählte Produkte mit Regenbogen-Design-Elementen für den Alltag, und wem das nicht genügt, der kann andächtig den Paraden am CSD beiwohnen, die für einen nicht-eingeweihten Beobachter intuitiv wohl als religiöser Umzug erscheinen müssen.
Die Naturmystik hat ein zwar nicht sehr reichhaltiges aber allgegenwärtiges Brauchtum hervorgebracht, dem man sich kaum entziehen kann.

Der Tod

 Kann es eine Religion ohne Jenseitsvorstellung geben? Es kommt natürlich darauf an, wie man „Religion“ definiert und welche Ansprüche man an eine Jenseitsvorstellung stellt. Kann man im Buddhismus wirklich von einer „Jenseitsvorstellung“ sprechen, wenn das eigene Bewusstsein nicht mehr weiter besteht?
 So ähnlich ist es auch in der Naturmystik: Der Mensch hört zwar als Person auf zu existieren. Er erwacht also nicht in einer anderen Welt. Aber er fühlt sich irgendwie geborgen in der Vorstellung, auch in seinem Tod Teil der natürlichen Abläufe zu sein. Der Naturmystiker beruhigt sich und andere mit dem Hinweis darauf, dass „der Tod zum Leben dazu gehört“, oder dass „das Leben nun einmal so sei“, oder auch dass er wieder „zurück kehrt“ in den „Schoß der Natur“ etc...
 Der Tod wird also nicht besiegt sondern anders gedeutet. Dadurch soll ihm der Schrecken genommen werden. Der Naturmystiker träumt von der Vorstellung, ohne Todesfurcht, versöhnt mit seinem Schicksal und ergeben in die natürlichen Abläufe zu sterben.

Askese


Die Jenseitshoffnung bleibt die Achillesferse der Naturmystik. Tatsächlich ist die Hilfe, die sie  zu dem Thema zu bieten hat, so dünn, dass viele Menschen Anleihen bei anderen Religionen wie Buddhismus oder sogar dem Christentum suchen, auch wenn sie darüber nach meiner Erfahrung oft nur hinter vorgehaltener Hand und auf direkte Nachfrage sprechen.
Das Thema bleibt für den Naturmystiker aber so bedrohlich, dass ihm letztlich nur der Weg über die konsequente Verleugnung bleibt, d.h. der Tod muss aus allen Bereichen des Lebens ausgespart werden: im Essen darf er nicht in Form getöteter Tiere vorkommen, der Körper wird mit Diäten, Fitness und notfalls auch Schönheitsoperationen soweit wie möglich von jedem Makel befreit - was natürlich nicht gelingt. Daher bleibt am Ende nur das Verstecken des eigenen Körpers erst hinter Photoshop, dann durch die Einsamkeit.

Wie lässt sich so eine leibfeindliche Haltung aber mit den Grundannahmen der Naturmystik einer vollkommenen Natur in Einklang bringen? Die Antwort liegt im Natur-Begriff selbst.

Ein überfälliger Exkurs

Wer „Natur“ im christlichen Sinne versteht als alles, was Gott geschaffen hat, wird sich unter dem Attribut „natürlich“ nicht viel vorstellen können. Es gibt im Christentum nur den Schöpfer und das Geschöpf, und damit ist außer Gott auch alles natürlich. Für den Naturmystiker ist „natürlich“ aber ein auszeichnendes Prädikat, es beschreibt also die Nähe zu dem ursprünglichen, vollkommenen Zustand, der immer nur punktuell erreicht aber leider auch schnell verloren gehen kann. Natur ist Ursprung und Ziel, nicht die Wirklichkeit, und da es keinen Grund für die Hoffnung gibt, dass der vollkommene natürliche Zustand in absehbarer Zeit erreicht wird und das naturmystische Jenseits auch keinen Trost bietet, gibt es wenig, worauf der Naturmystiker hoffen kann. Alles, was ihm bleibt, ist die innere Heilung, also das Empfinden einer Einheit von Wunsch und Wirklichkeit, und wenn dieses Ziel nur im Inneren erreicht werden kann, sind alle Mittel recht, die in der Lage sind, diese Vorstellung zu bedienen: seien es Schönheitsoperation oder das Kaschieren von Umweltproblemen durch Zertifikate, das Verlagern von Schadstoffen vom eigenen E-Auto weg in ferne Länder und das Zersiedeln der Landschaft durch den Traum vom Haus in der Natur-Idylle mit „Natur-Steinen“ dekoriert, die natürlich irgendwo zerstörte Landschaften hinterlassen haben. Das Vollkommene Bild der Natur überdeckt daher oft nicht nur das Zerstörte und auch Zerstörende der Natur sondern bringt die Zerstörung oft erst hervor.
Naturmystik ist ihrem Wesen nach kein Umweltschutz. Sie ist ein therapeutischer Weg, der lieber die Natur zerstört als das Bild von ihr, und die Natur ist auf diesem Weg ein Gefühl, das man im Christentum als „gutes Gewissen“ oder „Friede mit Gott“ bezeichnen würde.


Weltentstehungsmythos

 Die Evolution ist der Schöpfungsmythos der Naturmystik. Die Evolutionstheorie erklärt zwar nichts (das wäre ein Thema für einen weiteren Essay), entspricht aber ganz der Vorstellung der Natur als einer Größe, die selbstständig und ohne fremde Eingriffe (ganz wichtig!) alles hervorgebracht und geordnet hat.
An dieser Stelle befindet sich vielleicht der entscheidende Unterschied zwischen Materialismus und Naturmystik, denn der Begriff „Natur“ wird nicht nur neben dem Begriff „Materie“ eingeführt sondern auch mit Attributen versehen, die der Materie nicht unbedingt zugeschrieben werden: nur die Natur kann etwas in Weisheit ordnen, nicht die Materie. Mit der Natur kann man in Einklang leben, die Aussage ergäbe im Hinblick auf die Materie überhaupt keinen Sinn. Der Naturmystiker kann in seiner Phantasie „die Natur“ Dinge hervorbringen lassen, heilen, wissen und niemand pocht auf eine saubere Trennung zwischen blumiger Redeweise und einer wirklichen Frömmigkeit. In der jüngeren Zeit wird diese Seite der Natur öfter auch „dem Universum“ zugeschrieben, was möglicherweise noch deutlicher die übernatürliche Seite dieses Glaubens ausdrücken soll, ohne dass dabei der naturwissenschaftliche Rahmen zu deutlich verlassen wird.

Politische Konsequenzen

Das Grundanliegen der Naturmystik ist zunächst sehr persönlich und selbst die erhofften positiven Effekte auf das direkte Umfeld werden lediglich als erfreulicher Nebeneffekt erwartet. Daher könnte man auf die Idee kommen, dass die Naturmystik sehr unpolitisch ist, und das stimmt einerseits; es stimmt aber gerade wegen ihrer fehlenden politischen Ambitionen auch nicht. Hierzu muss man sich vergegenwärtigen, dass das Hauptanliegen des Naturmystikers die gefühlte innere Konsistenz ist, und die kann empfindlich durch Politik und Medien gestört werden. Bekanntlich tendiert jeder Mensch dazu, sog. „kognitive Dissonanzen“ zu vermeiden, d.h. er fühlt sich nicht wohl, wenn er etwas tut, obwohl er nicht dahinter steht, ganz gleich, ob er dazu gezwungen wird, sich nicht traut, anders zu handeln oder einfach inkonsequent ist. Dieser Effekt wird von den Medien ausgiebig genutzt, soziale Räume entwerfen zu können, die den Menschen vor einen Konflikt stellen: als soziales Wesen ist der Mensch einerseits bestrebt, Konflikte mit der Gruppe zu vermeiden, andererseits sucht er seine innere Heilung in der Auflösung seiner inneren Konflikte. Was soll er also tun, wenn seine persönlichen Überzeugungen mit denen des medial erzeugten sozialen Raumes nicht übereinstimmen?
Er könnte mit der Diskrepanz zu leben lernen und als Erwachsener Mensch für seine Position kämpfen. Da es für den Naturmystiker allerdings nichts gibt, was er mehr scheut als Diskrepanzen, bleibt ihm nur der Weg, sein Denken anzupassen. Und genau das macht ihn nicht nur zu einem hochgradig manipulierbaren, leichtgläubigen Menschen, sondern leider auch zu einem willigen Kämpfer an jeder Front, die ihm auf diese Weise gerade vorgelegt wird. Der Naturmystiker ist die ideale politische Verschiebemasse, ganz gleich, ob er sich für oder gegen Rechte bestimmter Gruppen einsetzen soll (Rechte von Journalisten gelten naturgemäß als besonders schützenswerte), ob er gerade für Krieg oder Frieden ist oder ob er für seine Freiheit kämpfen oder sie willig aufgeben soll.

Naturmystik als Religion

Die Begriffe „Religion“ und „religiös“ werden heute oft abwertend verwendet,  etwa wenn man das Irrationale oder Bornierte einer Bewegung oder eines Hobbys herausstellen möchte. Und manchmal meint man damit einfach nur, das Leute es übertreiben, wenn man darauf hinweist, dass ihr Unterfangen ja schon „religiöse Züge“ annehme.
Dass es sich dabei oft tatsächlich nur um Polemik handelt, würde man schnell sehen, wenn es um die Frage ginge, ob die Bewegung oder das Hobby Anspruch auf Religionsunterricht haben oder ob man es im Familienstammbuch eintragen sollte. Spätestens dann wäre vermutlich schnell allen klar, dass die Allgegenwart von vermeintlich religiösen Elementen eher eine strategische Polemik sein soll und die weniger die fertige Gestalt einer Religion als vielmehr ihre Entwicklung im Entstehen begriffen sieht.
Vor dem Hintergrund der Grundangst der Naturmystik ist es sehr kennzeichnend und nicht verwunderlich, dass eine der am weitesten verbreiteten Spottbezeichnungen „religiös“ geworden ist. Wenn etwas religiöse Züge annimmt, ist das ein klares Signal, mal wieder einen Gang runter zu schalten.
Religion in diesem spöttischen Sinne kann man als psychologischen Prozess einer vermeintlich gesellschaftlichen Verknöcherung verstehen, bei dem sich gedankliche Muster verhärten und vom Leben und seinen natürlichen bzw. gesellschaftlichen Zusammenhängen abspalten. Und das ist eben die Grundangst des Naturmystikers.
Das Wesen einer Religion besteht nach dieser Vorstellung darin, dass sie sich wie widerständiges Gewebe im politischen Organismus verhält. Wer Religion so versteht, kann damit immer nur gesellschaftliche Randerscheinungen als Religion ansehen. Eine spirituelle Grundlage, die aber von allen geteilt wird, bliebe dabei naturgemäß unter dem Radar, d.h. so eine Gesellschaft würde sich niemals als religiös betrachten, und aus diesem Grund gehört es zum Selbstverständnis der Naturmystik, den religiösen Charakter bei sich strategisch zu übersehen oder zu leugnen.

Ich möchte daher nur ein paar Elemente herausgreifen, die sie in meinen Augen eben doch zu einer voll ausgearbeiteten Religion erkennbar machen:
Erstens geht die Naturmystik in ihren Grundüberzeugungen über die erkenn- und erforschbare Wirklichkeit hinaus indem sie ein Wertesystem aus ihr herausliest, dass sie zunächst in sie hineinlesen muss, d.h. die Grundüberzeugung, dass die Natur an sich gut ist sowohl wie die Sorge, aus den natürlichen Gegebenheiten herausgefallen sein zu können, lässt sich nicht aus der Beobachtung der Natur ableiten.
Es handelt sich um ein Set von Überzeugungen, die subtil aber mächtig das ganze Leben und Denken von der Geburt bis zum Tod in allen seinen Facetten bestimmt.
Daraus entwickelt sich nicht nur die persönliche Motivation sondern auch eine Ethik und Pädagogik.
Es gibt eine gemeinsame Erzählung über die Entstehung der Welt und unserer Gesellschaft.
Was man vielleicht vermisst, ist eine erkennbare Form der feierlichen Versammlung unter geistlichen Autoritäten, aber da sich die Technik weiterentwickelt hat, wäre es naiv zu glauben, wir bräuchten heute Versammlungshäuser, in denen sich ganz Deutschland zu einer bestimmten Uhrzeit einzufinden hat. Wer sich die Rituale z.B. der tagesschau ansieht, merkt schnell, dass die Eröffnung mit Trompeten und Gong dazu beitragen, einen sakralen Raum zu eröffnen.
Wenn ihr denkt, ich habe ein entscheidendes Kriterium übersehen, weist mich aber gerne darauf hin.