Was meinte Jesus damit, dass wir unser Auge ausreißen sollen?

In der Bergpredigt scheint Jesus seinen Zuhörern einen martialischen Rat zu geben:

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. 28 Ich aber sage euch, dass jeder, der eine Frau ansieht, sie zu begehren, schon Ehebruch mit ihr begangen hat in seinem Herzen. 29 Wenn aber dein rechtes Auge dir Anstoß ⟨zur Sünde⟩ gibt, so reiß es aus und wirf es von dir! Denn es ist dir besser, dass eins deiner Glieder umkommt und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. 30 Und wenn deine rechte Hand dir Anstoß ⟨zur Sünde⟩ gibt, so hau sie ab und wirf sie von dir! Denn es ist dir besser, dass eins deiner Glieder umkommt und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird.“ Mt 5, 27 (Elberfelder Übersetzung)

Gerade besonders ernsthaften Christen kann diese Stelle Kopfschmerzen bereiten. Was meinte Jesus damit? Ging es ihm einfach nur um eine drastische Metaphorik, die letztlich nur bedeutet dass man eben nicht sündigen soll?
Ich glaube, dass man die Bedeutung recht leicht versteht, wenn man sich sehr nah am Wortlaut bewegt:
Mit der Formulierung „Wenn dein rechtes Auge dir Anlass zur Sünde gibt“, spricht Jesus ja offenbar von dem begehrenden Blick, der zum Ehebruch führt. Das „Wenn“ ist dabei eine Bedingung, die eigentlich überrascht, weil man nicht genau weiß, woher sie kommt und wie man überhaupt auf die absurde Idee kommen soll, dass das Auge schuld sein sollte? Und dann auch noch ein einzelnes!
Jesus scheint hier eine Vorstellung seiner Hörer aufzugreifen, auf die er mit dem „Wenn“ Bezug nimmt, nämlich die gängige Selbstrechtfertigung, dass man im Zusammenhang mit der Sexualität ja letztlich von seinem Körper gesteuert wird. Ich habe auch selbst schon von Leuten gehört, dass ihre Hand „irgendwo hin gewandert ist“ u.ä.
Diese Vorstellung von einem im Hinblick auf die Sexualität autonomen Körper zerlegt Jesus hier gründlich: Die Tatsache, dass beide Augen beteiligt sind, beweist eben, dass es eine zentrale Steuerung gibt, die durchaus noch die Kontrolle über die Augen bzw. die Arme und Hände hat.
Die Szene, die Jesus beschreibt, passt eher zu einer neurologischen Störung, bei der ein einzelner Arm tatsächlich autonome Bewegungen durchführt, was aus naheliegenden Gründen nicht nur gruselig sondern auch gefährlich sein kann und daher unter allen Umständen unterbunden werden muss.
Wenn jemand es also ernsthaft glaubt, dass sich seine Glieder der Kontrolle des Geistes entzogen haben, dann muss er alles Nötige tun, um diese Glieder an unwillkürlichen Entscheidungen zu hindern. Das ist aber ein (extrem seltenes) medizinisches Problem und die Hörer werden zugeben müssen, dass dieser Fall auf sie einfach nicht zutrifft sondern sie ihrer eigenen schlechten Ausrede aufgesessen sind.

Nun könnte man zwei Dinge einwenden: das eigentliche Problem ist in der Regel auch nicht die ausführende Hand oder das schauende Auge, sondern - die Keimdrüsen. Einer zweifelhaften Legende nach soll Origines sich genau aus diesem Grund selbst kastriert haben. Hat er das Wort Jesu wörtlich genommen oder falsch verstanden?
Offensichtlich spricht Jesus in dem Zusammenhang mit dem Ehebruch nicht das naheliegendste Mittel an, nämlich die Kastration, die in zahllosen Kulturen genau aus diesem Grund regelmäßig durchgeführt wurde. Natürlich war ein Grund für ihn, dass die Kastration von Mensch und Tier im Alten Testament verboten war. Aber es gibt noch einen zweiten Grund für das Fehlen dieser Idee in der Bergpredigt: genau so wie das Beteiligtsein von zwei Armen beweist, dass die Arme eben nicht autonom sind, beweist der lange Weg von den Keimzellen bis zum vollzogenen Ehebruch, dass es hier durchaus noch Widerspruchsmöglichkeiten für den Menschen gibt.

Der zweite Einwand könnte süchtiges Verhalten anführen. Ist es nicht ein Fortschritt, dass wir den Kontrollverlust eines Menschen unter bestimmten Bedingungen als krankhaft einstufen und daher auch medizinisch/therapeutisch und eben nicht nur moralisch darauf reagieren?
Jesus bestreitet an dieser Stelle mit keinem Wort, dass der Kampf gegen die Vorschläge unseres Körpers immer leicht ist. Aber er rückt mit medizinischer Präzision die schiere Anwesenheit eines Gehirns als Steuerorgans in den Blick in dem die Entscheidungen geprüft werden können. Und wer wirklich unter einer Sucht leidet, wird ohne gute eigene Entscheidungen niemals gesund werden. Er mag sich dafür entscheiden, therapeutische oder vielleicht auch pharmazeutische Hilfe anzunehmen, Reize zu vermeiden und langsam unter Anleitung seine Willensstärke wieder zu steigern, aber bei allen äußeren Hilfen wird es niemals möglich sein, ihn unter Ausschluss seines Willens gesund zu machen. Gesund ist er erst, wenn er sich dann irgendwann ohne äußere Hilfe und Einschränkungen wirklich freiwillig gegen das Suchtmittel entscheiden kann.

Je mehr ich mich mit dem Text beschäftige, desto mehr staune ich über die Gratwanderung, die Jesus hier leistet, wenn er einerseits die Schwere des Kampfes gegen die Sünde betont und andererseits den Menschen in seiner Handlungsfähigkeit wieder aufrichtet, der sich manchmal vielleicht seinen eigenen Wünschen ausgeliefert und hilflos fühlt. Es gibt in diesem Text kein „mach es einfach nicht“ - weil es eben nicht einfach ist - aber auch kein Verständnis für schlechte Ausreden. Dieses Verständnis für Schwachheit hat sich in unserer Kultur aus naheliegenden Gründen sehr breit gemacht, weil schwache Menschen leichter verführbar sind für Käufe und politisch unkluge Entscheidungen. Es gibt daher ein mächtiges Interesse daran, unsere Willensschwäche zu untergraben.
Jesus setzt genau dort an. Er kennt unsere Kämpfe und richtet uns als Menschen wieder auf, die von Gott mit einem Geist ausgestattet sind und ihn jederzeit auch wieder in Betrieb nehmen können. Auch wenn es nicht leicht ist.